Pedro Weingärtner Sein Werdegang und Werk im 19. Jahrhundert *

Paulo César Ribeiro Gomes

GOMES, Paulo César Ribeiro. Pedro Weingärtner Sein Werdegang und Werk im 19. Jahrhundert. 19&20, Rio de Janeiro, v. XI, n. 1, jan./jun. 2016. https://doi.org/10.52913/19e20.XI1.06b [Português]

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1.      „Ich will Künstler werden! Ich gehe nach Europa!“ So beginnt die offizielle Biografie Pedro Weingärtner (1853-1929), geschrieben 1956 von Angelo Guido. Die direkte Wiedergabe der Gedanken des (werdenden) Künstlers und die Reaktion der Familie präsentieren sich in der Schilderung Guidos für uns heute als eine hübsche Fiktion. In Wahrheit gibt es nämlich keine vertrauenswürdigen biografischen Informationen über Pedro Weingärtner. Sein Leben, seine Gedanken, seine Weltsicht, alles ist uns, mit Ausnahme seines Werks, unzugänglich, denn es gibt keine Interviews, Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen oder irgendwelche andere schriftliche Hinterlassenschaften des Künstlers. Sein Lebenslauf, seine Wege und Werke bilden ein Geflecht aus widersprüchlichen Daten und enormen Lücken, Ergebnis der zwar ehrlichen, aber doch konfusen Bemühungen seiner ersten Biografen. Sie haben eine dichte Wolke voneinander abweichender Informationen geschaffen, die wir bis jetzt noch nicht zu entwirren vermochten. Man hat den seltsamen Eindruck, als ob niemand hinter dem Werk stünde: Wir wissen von keiner seiner Arbeiten, was ihn zu diesem Gemälde, jenem Stich oder dieser Zeichnung veranlasste; wir haben lediglich ein paar materielle Spuren seines künstlerischen Schaffensprozesses, wie zeichnerische Entwürfe, Studien und auch unvollendete Bilder. Aber selbst dies in geringer Zahl.

2.      Weingärtner ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall: Es gibt viele brasilianische Künstler dieser Zeit, von denen wir sehr wenig wissen. Wenn uns Dokumente fehlen, so fehlt uns vor allem zunächst einmal das Bewusstsein zur Wertschätzung des mit unserer Kunstgeschichte verbundenen historischen Erbes: Wir vertiefen uns in formale Analysen, Fragen der Rezeption, der sozialen Rahmenbedingungen und alles, womit ein Kunsthistoriker sich befasst, doch leider sind eigenhändige Dokumente selten und überlieferte Äußerungen spärlich. Wenn wir auf die Werke renommierter europäischer Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schauen, wie z. B. Édouard Manet (1832-1883), Paul Cézanne (1839-1906), Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901) u.a., entsinnen wir uns rasch biografischer Daten zu ihrer Herkunft, ihrer Laufbahn, ihrem Lebensumfeld und der Kritik, die sie erfuhren, d.h. es stehen uns Informationen zur Verfügung, die ihre Werke situieren und kontextualisieren. Wir reden hier keiner Häresie das Wort und wollen keinen Rückfall in die „biografische Illusion“ (BOURDIEU 1998), ein Modell, das die Praxis der zeitgenössischen Geschichtsforschung definitiv überwunden hat, sondern verfechten lediglich das Recht auf einen Einbezug der persönlichen Sphäre, was notwendig ist, damit die betreffende Person nicht derart in den Hintergrund rückt, dass es scheint, sie habe gar nicht existiert.

3.      Pedro Weingärtner war Maler, Zeichner und Graveur. Einer der großen brasilianischen Künstler seiner Zeit, der nach einer ersten Lehrzeit in Rio Grande do Sul nach Europa geht, um sich dort zunächst in Deutschland, dann in Frankreich fortzubilden und sich schließlich in Italien niederzulassen. Sein malerisches Werk hat Höhepunkte in Genre- und Landschaftsbildern sowie neopaganen Szenen; großen Erfolg hatte er zudem als Porträtist der nationalen Aristokratie. Weingärtner entfaltete seine erfolgreiche Karriere in Europa und in Brasilien, sein Werk wurde auch im Ausland ausgestellt und gehandelt, hauptsächlich aber in São Paulo und Rio de Janeiro. Sein bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wachsendes Ansehen vermindert sich erst gegen Ende seiner Karriere. Er geriet dann in eine Art Vergessenheit, in der das Werk, obgleich es weiterhin von Sammlern begehrt wird, bei Kunstlieb- habern an Interesse verliert. Um Weingärtners künstlerischen Stellenwert zu verstehen, ist es nötig, einen Blick auf seine Entwicklung und Position in der Geschichte der brasilianischen Malerei seiner Zeit zu werfen.

4.      Pedro Weingärtners Entscheidung, für seine künstlerische Ausbildung nach Deutschland zu gehen, kann sicherlich, wenngleich es dafür keinerlei über- lieferte Äußerung oder dokumentarische Belege gibt, mit seiner familiären Herkunft in Verbindung gebracht werden. Wir besitzen keine Informationen darüber, ob der Künstler Verwandte oder Freunde dort hatte, doch sowohl seine deutsche Abstammung als auch Ratschläge von Freunden oder selbst Empfehlungen wie die des Journalisten Karl von Koseritz (1830-1890) mögen zu dieser Entscheidung beigetragen haben. Das Naheliegende wäre zunächst gewesen, die Hauptstadt des brasilianischen Kaiserreiches Rio de Janeiro und seine angesehene Kunsthochschule, die Academia Imperial de Belas Artes, aufzusuchen, anstatt sich direkt nach Europa zu wenden. Und selbst dort wäre den Erwartungen eines brasilianischen Künstlers eine Ausbildung in Frankreich oder Italien, wo die meisten der Stipendiaten oder Staatspensionäre des Kaiserreichs ihre Studien betrieben, eher entgegengekommen. In dieser Hinsicht stellte seine Ausbildung in Deutschland eine Ausnahme dar, wie auch die Tatsache, in Europa studiert zu haben und in Rio de Janeiro sowie in São Paulo erfolgreich gewesen zu sein, ohne die Academia Imperial de Belas Artes durchlaufen zu haben (CARDOSO 2008).

5.      Sein Aufenthalt in Deutschland begann im Februar 1878 und erstreckte sich bis Mai 1882, als er sich bereits in Frankreich befindet. Dort bleibt er bis Juli 1884, geht dann nach Mayrhofen in Tirol und später nach München, von wo aus er sich 1886 nach Italien begibt und sich dort bis zu seiner endgültigen Rückkehr nach Brasilien im Jahr 1920 mit Unterbrechungen in Rom niederlässt.

6.      Zu seiner Laufbahn als Kunststudent in Deutschland haben wir nur eine Liste von Orten, Schulen und Lehrern, aber sonst keine näheren Informationen. Anfänglich lässt er sich in Hamburg nieder, dem bedeutenden Stadtstaat im Verbund des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) mit einem der größten Häfen am Nordatlantik. Dort immatrikuliert er sich für eine kurze Zeit, von Februar bis September 1878, in der Hamburger Gewerbeschule, worauf er dann nach Karlsruhe wechselt.

7.      In dieser Stadt nahe der Grenze zu Frankreich wird Weingärtner grundlegende Studien betreiben, wenn wir die Zeichnungen, die aus dieser Zeit erhalten sind, zum Maßstab nehmen. Den biografischen Erzählungen Angelo Guidos und Athos Damascenos (1971) zufolge studierte er an der von Ferdinand Keller (1842-1922) geleiteten Großherzoglich-Badischen Kunstschule bei Theodor Poeckh (1839-1921); möglicherweise war er auch Schüler von Ernst Hilde- brand (1833-1924). Erster Leiter der 1854 vom Prinzregenten und späteren Großherzog Friedrich von Baden gegründeten Institution war der Landschafts- maler Johann Wilhelm Schirmer (1807-1863). Als Lehrer und administrativ geschickter Reformer entwickelte Schirmer für die Schule, die damals schon als fortschrittlich galt, einen äußerst kühnen Lehrplan, sowohl aufgrund der Förderung der Landschaftsmalerei als auch wegen der großen Vielfalt künstlerischer Disziplinen im Programm. Soweit wir wissen, hält sich Weingärtner von Oktober 1878 bis Oktober 1880 in dieser Stadt auf und begibt sich dann nach Berlin.

8.      Im Zuge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts hatte sich Berlin zum Zentrum der Wirtschaft und des Eisenbahnverkehrs entwickelt und war am 16. April 1871 zur Hauptstadt des neu gegründeten Deutschen Kaiserreichs ernannt worden. Zudem war es die kulturelle Hauptstadt des Reichs.  In dieser seiner dritten Stadt in Deutschland immatrikuliert sich Weingärtner in der Königlich Preußischen Akademie der Künste. Nach den Schilderungen von Guido und Damasceno hat er Ende der 1880er Jahre enorme finanzielle Schwierigkeiten, die ihn zwingen, die Akademie zu verlassen und eine Anstellung im Studio eines Fotografen anzunehmen. Einige Freunde aus Porto Alegre schicken ihm finanzielle Überlebenshilfen: Martin Bromberg, Jacob Roch und J. Bartolomeo Sesiani, alles reiche Kaufleute.

9.      Im Mai 1883 finden wir Weingärtner an der Académie Julian in Paris immatrikuliert, von wo er erst im Juli 1884 zurückkehrt, zunächst nach Mayrhofen und dann nach München, in die reiche Hauptstadt Bayerns. 1871 zählte München bereits 170.000 Einwohner und hatte ein entsprechend wirtschaftlich und kulturell entwickeltes Leben. Er schreibt sich an der dortigen Kunstakademie ein und kann sogar an einer Ausstellung in der Modernen Galerie teilnehmen, wo er einer Aussage Karl von Koseritzzufolge das Gemälde Der Besuch im Atelier für „tausend Franken“ verkauft (s. GUIDO 1956, S. 37).

10.    Wenn er in Deutschland selbst als Schüler eher traditioneller Maler engen Kontakt mit formal und thematisch couragierteren Künstlern wie Adolph Menzel (1815-1905), Wilhelm Leibl (1844-1900), Franz von Lenbach (1836-1904) und Lovis Corinth (1858-1925) hatte, wie dies auch klar in seinem Werk zu erkennen ist, so waren es in Frankreich die Maler im Umfeld der naturalistischen Bewegung, zu denen er Kontakt suchte und fand. Die Verwandtschaft von Weingärtners Werk mit diesen Künstlern ist offenkundig, wie diese folgt er den Richtlinien der „korrekten Zeichnung, des guten Malens und der Betonung einfacher Themen, im Gegensatz zum schwülstigen und trügerischen Stil der Malerei seiner französischen Lehrer, vor allem Adolphe-William Bouguereaus (1825-1905).

11.    Die Reise Weingärtners nach Frankreich und sein Aufenthalt dort von Mai 1882 bis Juni oder Juli 1884, nach seiner Wanderschaft durch mehrere Städte und Kunstschulen in Deutschland, ist in seiner Biografie durch das Bemühen geprägt, finanzielle Stabilität zu erlangen, was er dank einer von Kaiser Pedro II. gewährten Jahrespension auch erreicht. Wenn hinsichtlich seiner Karriere die Zeit in der Académie Julian [Abb. 1] keine merklichen Spuren hinterlassen hat, so brachte sein Aufenthalt in Paris doch einen großen Wandel.

12.    In zwei Artikeln (2002 und 2005) untersucht die Forscherin Ana Paula Cavalcanti Simioni die Rolle der Académie Julian in Paris und führt dabei die Etappen der damaligen kunstakademischen Ausbildung in Frankreich auf. Der Zeichenunterricht, der einen hohen Stellenwert im Studiengang besaß [Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5], begann mit einem Abschnitt, in dem die Schüler lediglich Teile des menschlichen Köpers nach Gipsmodellen zeichneten. In einer zweiten Stufe zeichneten sie nach vollständigen Gipsmodellen von Büsten und Körpern, um Lichtverhältnisse und Proportionen zu studieren, und in einer dritten Etappe schließlich begann das Zeichnen nach lebenden Modellen. Simioni zufolge hatte das Zeichnen nach lebenden Modellen in der Académie erstrangige Bedeutung in der Ausbildung der Künstler und großes Gewicht in ihrer Karriere. Die Autorin erläutert, dass diese zwingende Präsenz des Zeichnens mit der Rangordnung der akademischen Kunstgattungen verbunden war, an deren Spitze die Historienmalerei stand, welche auf den Helden zentriert war, dessen Körper eine sichtbare und markante Muskulatur zeigen musste, als Zeichen der eminent männlichen Qualitäten physischer Kraft und Macht (SIMIONI 2005). So war die Vollkommenheit der Zeichnung menschlicher Körper grundlegendes Erfordernis für eine erfolgreiche Karriere.

13.    Die Malerei war die zweite Phase der kunstakademischen Ausbildung und durchlief verschiedene Niveaus, angefangen von der ersten, Ébauche genannten Stufe, in der die Studenten als technische Übung ein Detail irgendeines Werks eines großen Meisters kopierten. Die zweite, Esquisses betitelte Stufe, galt dem Gesamtentwurf des konzipierten Gemäldes mit der Gestaltung der Komposition, Farb- und Lichtverhältnisse, doch mit lockeren Pinselstrichen, ohne sich um die Vollendung zu kümmern; und in der dritten Stufe des Fini schließlich gelangen wir zum eigentlichen Gemälde; nun geht es darum, auf die Esquisse zurückzukommen, die Lichteffekte zu überprüfen und das Bild zu vollenden, indem alle Spuren des Malprozesses getilgt werden, um ihm die gewünschte Wirkung der Perfektion zu verleihen.

14.    Praktisch mit abgeschlossener Ausbildung, berücksichtigt man die fast sieben Jahre seiner Lehr- und Wanderzeit in Deutschland und Frankreich, scheint Weingärtner, nachdem er 1880 in Deutschland und 1883 in Paris Zeiten ernster Geldnöte durchlebt hatte, mit der kaiserlichen Pension die ersehnte finanzielle Unabhängigkeit errungen sowie gleichzeitig seine künstlerische Identität erlangt zu haben. Wir können feststellen, dass er ab der Mitte der 1880er Jahre effektiv ein eigenes malerisches Vokabular entwickelt.

15.    Wenngleich die Werke aus dieser Zeit nur wenige sind, so sind es die ersten, in denen wir einen Künstler erkennen, der seine Mittel und Themen beherrscht, wie wir an dem No Ateliê betitelten Gemälde sehen können [Abb. 6], das in Paris oder vielleicht auch in München gemalt wurde. Ein anderes bedeutsames Bild der Periode ist Recanto do ateliê em München [Abb. 7], aus dem Jahr 1884, mit sichtlichen Anklängen an das berühmte Bild Das Balkonzimmer (1845) von Adolph von Menzel (1815-1905) [Abb. 8], das sich heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin befindet.

16.    Was wir bei diesen Werken beobachten können ist eine offenkundige Zugehörigkeit zu einem Stil, den man gemeinhin und unbedachterweise alsrealistische Malereibezeichnet. Wir sagen unbedachterweise, denn - wie Jorge Coli bemerkt,

17.                                  [d]ie Entwicklung der Kunstgeschichte in unserer Epoche erinnert an ein riesiges Reich, das seine Domänen immer stärker ausweitet. Seit der Wiederentdeckung des Barock vor etwa 130 Jahren bis zu derjenigen der historistischen Architektur und der offiziellen Malerei des 19. Jahrhunderts in jüngerer Zeit - über die Neubetrachtung des Manierismus, des Jugendstils, des Neoklassizismus, der romantischen Malerei -, geraten ganze Segmente der künstlerischen Produktion, die seit Jahrzehnten im Schatten lagen, in den Blick des Historikers und eines immer breiteren Publikums. (COLI 2010, S. 285)

18.    Im Rahmen dieser Logik der Revision und Neuschreibung der Kunstgeschichte erscheint der Naturalismus als eine Tendenz, welche die Aspirationen einer großen Gruppe von Künstlern zu erfassen und zu verstehen erlaubt, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wirkten und sich in keine der damaligen Bewegungen wie etwa den Impressionismus oder den Symbolismus einfügten, weshalb sie in den meisten kunstgeschichtlichen Studien einfach unbeachtet blieben. Im Fall Brasiliens z. B. waren es viele, die zwischen dem Ende des Akademismus des Zweiten Kaiserreichs und dem Modernismus der 1920er Jahre an diesemNicht-Ort“ unbestimmt zusammengedrängt wurden.

19.    Bekanntlich war der Naturalismus eine künstlerische Bewegung, die um 1870 herum hauptsächlich in Frankreich aufkam, in enger Beziehung zum voraufgehenden Realismus, doch miteiner großen Distanz zu dem Realismus Courbets - dessen Subjekt-Objekt-Beziehung nicht nach Neutralität und Universalität trachtete - und zum Naturalismus des Fin de Siècle, der das Porträt seiner Zeit schaffen wollte, ähnlich wie das Projekt der Rougon-Macquart“ (COLI 2010, S. 291).

20.    Vom Realismus übernimmt der Naturalismus einige Merkmale wie die Bedeutung des Motivs, die sensible Wahrnehmung der Natur und das Interesse an der Welt des Bürgertums und der Bauern. Die Bewegung kennzeichnet sich in erster Linie durch eine darwinistische Sicht der Existenz und durch den Glauben an die Nichtigkeit der menschlichen Bemühungen gegenüber den Mächten der Natur, neben dem auch auf die Welt der Arbeiter ausgerichteten thematischen Interesse und dem stärkeren Akzent auf der Figur gegenüber dem Szenarium.

21.    Sie zu charakterisieren heißt, gemeinsame Merkmale zu erfassen, und darunter sticht besonders ihrrecht homogener internationaler Charakter“ (COLI 2010, S. 287) hervor, mit seinem Zentrum Paris, in der „École des Beaux-Arts, aber auch in den Ateliers diverser Meister und in Akademien, unter denen die Académie Julian die bedeutendste war“ (COLI 2010, p. 287). Ein weiteres von Coli erwähntes Merkmal ist der Hang zur sozialen Beschreibung und Situierung der dargestellten Objekte: „Indem sie nicht nach Innovation auf der Ebene des künstlerischenMachenstrachten, sondern im Gegenteil versuchen, malerische Mittel, die sie sich perfekt angeeignet haben und beherrschen, in den Dienst der Absicht zu stellen, die ‚Realitätzubeschreiben‘, bilden die Naturalisten ein anonymes Metier, das sie fast austauschbar werden lässt“ (COLI 2010, S. 287).

22.    Die formale und thematische Affinität von Weingärtners Werk zu den Naturalisten ist nicht zu leugnen. Diese Feststellung ist deshalb bis heute nicht ungewöhnlich, wie wir in einem Text von Luciano Migliaccio sehen können:

23.                                  Das Bild Derrubada [Abb. 9] des Südbrasilianers Pedro Weingärtner ist vielleicht das erfolgreichste Werk unter all denen, die dem Rückgriff auf das Thema der heimischen Landschaft nach dem Beispiel [Félix-Emile] Taunays verschrieben sind. Doch in den verrenkten Stämmen und ausgerissenen Wurzeln in einem rohen Licht vermochte der Künstler die symbolischen Konsonanzen des Themas einzufangen, während er gleichzeitig die Lichtebenen und -kontraste durch dichten Farbauftrag  auf der Oberfläche bewältigt. Mit seiner Genremalerei, in der er die Welt der Emigranten im Süden des Landes darstellte, begründete Weingärtner einen neuen und kraftvollen Regionalismus in der brasilianischen Malerei. (MIGLIACCIO 2000, S. 180)

24.    Der von den zeitgenössischen Kritikern und Kommentaristen des Künstlers wahrgenommene besondere und lokalistische Charakter wurde eher als eine Art Regionalismus verstanden. In einer solchen Sicht führt diese Bildwelt theoretisch den Prozess der Schaffung einer nationalen Identität fort, einer Bewegung folgend, die im Rahmen des romantischen, literarisch inspirierten Akademismus aufkam und in einigenindianistischenWerken vom Malern wie Vitor Meireles (1832-1903) und Rodolfo Amoedo (1857-1941) zum Ausdruck gelangte. Die Fortführung dieses identitätsstiftenden Weges liegt dabei in der Hinwendung zur lokalen Realität, wie z.b. im Werk des aus der Provinz São Paulo stammenden José Ferraz de Almeida Júnior (1850-1899).

25.    Es ist interessant, dass diese thematische und formale Verbindung den aufmerksameren Beobachtern nicht entging. Seine erste Einzelausstellung im fotografischen Atelier von Insley Pacheco in Rio de Janeiro im Jahr 1888 wurde von Oscar Guanabarino (1894) mit Begeisterung empfangen. Unter anderen lobenden Kommentaren schrieb er:

26.                                  Gegenwärtig erscheint eine Kunst, die, wenn sie nicht geradezu national ist, doch die Tendenz dahin stark betont. In dieser Hinsicht haben wir drei bemerkenswerte Künstler, die brasilianische Szenen malen  und dabei großartige Bilder produzieren - Almeida Junior, Brocos und Weingärtner. Weingärtner beschränkt sich nicht darauf, brasilianisch zu sein - er wird lokalpatriotisch. Gegenwärtig zeigen seine Bilder Szenen aus Rio Grande oder zumindest aus dem Süden.

27.    Wenn es in dieser Ausstellung noch gar keinen entschiedenen Akzent auf der Darstellung von Themen aus dem Süden des Landes gab, so sollte dies in superlativer Weise bei der Ausstellung von 1892 geschehen, die auch in Rio de Janeiro stattfand. Bei den Werken dieser Periode, zu denen Chegou Tarde! (1890) [Abb. 10], Kerb (1892) [Abb. 11], Fios Emaranhados (1892) [Abb. 12] und Charqueada (1893) [Abb. 13] gehören, sind die Prinzipien des Naturalismus in seinen auffallendsten Aspekten nicht zu übersehen, nämlich die Konzentration des Blicks auf kleine Gruppen von Menschen und ihre Alltagstätigkeiten. Diese naturalistische Sicht erkennt man deutlich in der genauen Darstellung der Bewohner des Vale do Rio dos Sinos in Kerb, derjenigen der Bergregionen in Fios Emaranhados sowie Chegou tarde! und schließlich der Menschen und ihrer Verrichtungen im äußersten Süden in Charqueada.

28.    Das Werk Weingärtners hat große thematische und auch formale Ähnlichkeit mit dem Werk einer Vielzahl von europäischen Künstlern, sowohl französischen als auch deutschen. Auffallend ist z. B. diejenige zu Évariste Carpentier (1845-1922), eines belgischen Malers von Genre- und Landschaftsszenen. Die Betrachtung des Gemäldes Les Étrangères (1887) [Abb. 14]; erinnert unweigerlich an Chegou Tarde! und Fios Emaranhados. Es sind Künstler, die bei der getreuen Abbildung der Realität der Dinge weniger besorgt sind um „die Wirklichkeit als um die Verteidigung einer Naturauffassung, die mit einer traditionellen Darstellungsform der Wirklichkeit verbunden ist. In dieser Hinsicht ist Weingärtner eher einnaturalistischerals ein im eigentlichen Sinnerealistischer‘ Maler“ (COSTA 2010, S. 8).

29.    Wenn diese Bewegung auch, wie wir sahen, ihr Zentrum in Frankreich und hauptsächlich in Paris hatte, so entfaltete sie sich doch in breitem Maße und bei großer Empfänglichkeit in ganz Europa und selbst in Brasilien und man klassifizierte ihre Anhänger recht unterschiedslos als Realisten, Naturalisten, Macchiaioli, Veristen, bürgerliche Realisten etc. In diesem Sinne können wir - innerhalb der geografischen Grenzen von Weingärtners Wirken - eine ganze Reihe von Künstlern in diesen kunsthistorischen Zusammenhang stellen: die Franzosen Jules Bastien-Lepage (1848-1884), Jules Breton (1827-1906), Julien Dupré (1851-1910), Alphonse Moutte (1840-1913), den Portugiesen José Malhoa (1855-1933) [Abb. 15], die Italiener Ettore Tito (1859-1941), Telemaco Signorini (1835-1901), Antonino Leto (1844-1913), Francesco Loiacono (1841-1915), die Deutschen Adolph von Menzel (1815-1905), Hans von Marées (1837-1887), Wilhelm Leibl (1844-1900), Fritz von Uhde (1848-1911), Wilhelm Trübner (1851-1917), Max Liebermann (1847-1935), die Spanier Joaquín Sorolla y Bastida (1863-1923) und Mariano Barbasán Lagueruela (1864-1924) [Abb. 16], letzterer Gefährte Weingärtners während der Sommer in Anticoli Corrado, neben den bereits erwähnten Brasilianern Rodolfo Amoedo und José Ferraz de Almeida Júnior. Es sind Künstler, die, außer dass sie einer selben Generation angehören, denn die meisten von ihnen wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, sich auch in formaler Hinsicht sehr nahe stehen, nämlich durch die Beibehaltung der traditionellen Perspektive, die Deutlichkeit und Gegenständlichkeit in der Darstellung der Objekte und Personen und eine realistische Palette, d.h. die Treue zur mimetischen Darstellung der Dinge.

30.    Es werden noch andere wichtige Aspekte des Naturalismus von Jorge Coli hervorgehoben, auf die wir hier nicht näher eingehen können, wie etwa die Funktion dieser Werke in Hinsicht auf ihr Publikum und das Verhältnis dieser Künstler zur Fotografie: „Im Vergleich zum Malerei bietet uns die fotografische Wiedergabe ein zufälliges Zeugnis, ein Fragment, das verschieden ist von der im Gemälde enthaltenen Gesamtschau […]. Der Maler […] rekreiert das Reale; er erfasst es nicht in seinem partiellen Sein, sondern komponiert es neu, auf eine für den nach Synthese suchenden Geist befriedigenderen Weise“ (COLI 2010, S. 292).

31.    Haben wir über die Gründe, die Weingärtner zum Studium in Deutschland bewegten, keine zuverlässigen Informationen, so auch nicht über seinen plötzlichen Wechsel nach Paris. Berücksichtigt man die Entwicklung und späteren Ergebnisse seiner Karriere, lässt sich die Strategie dieses Wechsels dadurch verstehen, dass sie ihm die Annäherung an einen von der brasilianischen Aristokratie bewunderten Künstler wie den hochberühmten Bouguereau erlaubte. Dadurch eröffnete sich Weingärtner einen Weg zu materiellem Komfort. Über seine Entscheidung, nach Italien zu gehen, besitzen wir auch keine Daten. Interessanterweise war dies die von Kunstliebhabern am wenigsten verstandene Entscheidung, sie sehen darin einen Rückschritt, da dieses Land im 19. Jahrhundert nach dem Glanz der Renaissance und des Barock als ein stagnierendes, einem traditionellen, wenn nicht rückständigen Geschmack verhaftetes Zentrum galt.

32.    Indessen meinen wir, dass man hier nicht von Stagnation sprechen kann: Freilich erlebte Italien nicht mehr den Überschwang seiner Vergangenheit, doch dies heißt nicht, dass seine künstlerische Produktion erloschen war. Rom war noch immer ein bedeutendes Zentrum kultureller Bewegung, man schaue z. b. nur auf die italienische Musik der Zeit, die damals in Europa das größte Ansehen genoss und am meisten bewundert wurde. Und die Literatur? Und die Macchiaioli? Ohne diese Frage breiter auszuführen, scheint uns Gonzaga Duque (1863-1911) in einer Kritik aus dem Jahr 1888 zur Ausstellung von Henrique Bernardelli (1857-1936) - Kollege und einigen Dokumenten zufolge Freund Weingärtners in Italien - dazu treffend zu erläutern:

33.                                  Unter diesem Gesichtspunkt bietet Italien große Vorteile, und unter vielen findet sich derjenige einer gewissen Ähnlichkeit mit unserem Land, häutsächlich durch die Beständigkeit des Tons und die Unwandelbarkeit des Lichts […], so dass also der Maler, der sich mit dem Studium der abgeschiedenen italienischen Natur im Freien vertraut macht, gekonnt und mit Leichtigkeit unsere Landschaft darstellen wird. Diese Ansicht scheint mir zutreffend und sie lässt mich glauben, dass kein moderner Maler präziser unsere Natur darstellen können wird als Henrique Bernadelli […]. Für denjenigen, der über wenige Lehrjahre verfügt, ist Italien das einzige Land, wo ein brasilianischer Landschaftsmaler sich weiterentwickeln kann. (Zitiert aus DAZZI 2005, S. 124)

34.    In dem Roman Ana em Veneza (1998) des Schriftstellers João Silvério Trevisan steht die Laufbahn des Komponisten Alberto Nepomuceno (1864- 1920) aus Ceará im Mittelpunkt eines Teils der Erzählung sowie dessen Beziehungen zu anderen brasilianischen Künstlern in Europa. So kommt es, dass auch die Maler Henrique Bernardelli und Pedro Weingärtner indirekt am Romangeschehen beteiligt sind. Alle drei kamen jeweils für lange Zeit nach Europa und waren eng befreundet. Trevisan bietet uns eine völlig neue Sicht der Lebenswege des südbrasilianischen Künstlers und stellt ihn, was seine Teilnahme am kulturellen Leben im damaligen Rom betrifft, in einen glaubhaften und völlig kohärenten Kontext. In fiktionaler, an Nepomuceno gerichteter Erzählerrede schreibt Trevisan:

35.                                   [mit] seiner perfekten Kenntnis der Stadt, […] führte er [Weingärtner] dich ein in die Geheimnisse und Herrlichkeiten Roms, das er als die katholischste und heidnischste aller Hauptstädte der Welt ansah. […] Weingärtner ging mit dir auch in die belebtesten römischen Kaffeehäuser, besonders ins Caffè Greco, dem Treffpunkt kämpferischer Künstler - wo du die Gruppe um Ferrari, Bertolla, die Brüder Coleman, Morani, Cabianca und andere Maler der Campagna, Freunde Weingärtners, kennenlerntest, die sich in lange Diskussionen über Ästhetik und Politik einließen, wenn sie sich die Zeit nicht einfach mit Schachspielen vertrieben. (TREVISAN 1998, s. 313)

36.    Trevisan beschreibt hier in Wirklichkeit die Gruppe In Arte Libertas, eine italienische Bewegung mit separatistischer Tendenz, die eine Neuformulierung der italienischen Malerei anstrebte, dabei Nachdruck auf symbolistische Aspekte legte und sich für die Landschaftsmalerei als die ihren Absichten angemessenste Gattung einsetzte.

37.    Der Symbolismus war eine Stilrichtung, welche die Nicht-Gegenständlichkeit der Kunst vertrat und Aspekte hervorhob, die in der Sprache der Malerei bis dahin nicht zum Tragen gekommen waren, wie z. B. das Unbewusste. Er betonte Themen, welche Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod, Phantasie, Traum, Mythos, dem Rätselhaften, dem Mysterium etc. umfassten; d.h. alles, was die Welt des modernen Menschen verdrängte.

38.    Selbst in Anbetracht der geringeren Verbreitung des Symbolismus außerhalb Frankreichs und Belgiens (für beide Länder existiert dazu eine umfangreiche Bibliographie), hatte die Bewegung auch Anhänger und eine beachtliche Entfaltung in anderen Ländern wie in Italien und in geringerem Maße sogar in Brasilien. Unter dem starken Einfluss des Dichters Gabriele d’Annunzio (1863- 1938) entwickelten Künstler wie Adolfo de Carolis (1874-1928) und Giulio Aristide Sartorio (1860-1932) einen Malstil, der auf die Renaissance-Tradition mit ihrem Geschmack an Mythos und Allegorie zurückgreift, wie er vor allem in der Malerei der englischen Präraffaeliten zum Ausdruck kommt.

39.    In Arte Libertas wurde 1886 von (Giovanni) Nino Costa (1826-1903) gegründet, einem talentierten römischen Maler, der auch gute Fähigkeiten zur Organisation und Führerschaft hatte. Sich abwendend vom Stil der Macchiaioli, einer malerischen Avantgardebewegung mit naturalistischer Thematik und Einflüssen impressionistischer Technik und Palette, hatte In Arte Libertas eine offen antiakademische Ausrichtung und wollte die Malerei wieder stärker mit dem Leben verbinden, die Künstler in direkten Kontakt mit dem darzustellenden Motiv bringen. In ihrer Konzentration auf Landschaft und Natur war die Malerei von In Arte Libertas mit symbolischem und metaphysischem Sinn aufgeladen und darin vor allem mit der Malerei der École de Pont-Aven verwandt.

40.    Wir wissen nicht, ob Weingärtner so eng in die Gruppe des Caffè Greco eingebunden war, wie Trevisan erzählt, oder dort nur oft verkehrte. So wissen wir auch nicht, ob er an der Ausstellung von In Arte Libertas teilnahm, die 1888 in London organisiert wurde und dem breiten Publikum erstmals die Werke der Italiener zusammen mit Bildern von Camille Corot (1796-1875), Edward Burne-Jones (1833-1898) und Arnold Böcklin (1827-1901), neben anderen englischen Präraffaeliten,  präsentierte.

41.    Die Gruppe löst sich in den ersten Jahren nach 1900 auf und formiert sich später zu einer anderen, die sich die XXV della Campagna Romana nennt und weiterhin den Prinzipien Nino Costas folgt, zusammen hinauszieht, um das Land um Rom in Gemälden darzustellen und um in den örtlichen Tavernen gut zu essen. Der Gruppe, die von Henry Coleman (1846-1911) angeführt wurde, gehörten Onorato Carlandi (1848-1939), Giulio Aristide Sartorio (1860-1932), Filiberto Petiti (1845-1924) und Duilio Cambellotti (1876-1960) an. Sie hinterließ eine umfangreiche Produktion von Landschaftsbildern, die von da an die gesamte neue italienische Malerei beeinflussen sollte.

42.    Zwei Aspekte interessieren uns hier bei dieser Annäherung Weingärtners an diese dissidenten Künstler: die symbolistische Thematik und die Gattung Landschaft. Das Gemälde mit dem Titel Tempora Mutantur (1898) [Abb. 17] scheint mit beiden Aspekten verbunden zu sein.

43.    Dieses Gemälde, eines der Meisterwerke des Künstlers, hatte eine lange Entstehungszeit, zumindest was die Landschaft angeht, in welcher die Personen situiert sind, denn dieselbe Landschaft ist Thema eines anderen Bildes aus dem Jahr 1893, mit gleicher Gestaltung bis in kleine Details und mit gleicher malerischer  Ausführung.

44.    Vom Titel mit einem betont symbolischen Charakter bis hin zur Gestaltung eignet dem Gemälde ein Klima des Verhaltenen und Subjektiven, das beim Publikum und selbst bei einigen Spezialisten immer Fragen provoziert hat. Die Interpretationen beginnen bei einer wörtlichen Lektüre des Titels, einer Verkürzung des Sprichworts, das auf eine Kaiser Lothar I. (795-855) zugeschriebene Sentenz zurück- geht und vollständig Omnia mutantur, nos et mutamur in illis (Alle Dinge ändern sich und wir ändern uns in ihnen) lautet. Wann immer verwendet, bringt der Satz das Gefühl einer Entfremdung zum Ausdruck, das die modernen Zeiten in den Menschen hervorrufen, selbst wenn vieles besser werden mag, doch Gewöhnung und Anpassung erfordert, da Entwicklung eben Veränderung bedeutet.

45.    Andere, immer noch auf den Titel gestützte Interpretationen deuten das Bild auf die historische Situation der italienischen Einwanderer und ihre Schwierigkeiten im neuen Land hin oder aber im Zusammenhang mit dem starken Einfluss des Positivismus auf das brasilianische Denken in der Zeit des Übergangs zur Republik, vor allem in Rio Grande do Sul, wo die Doktrin August Comtes eine tiefe Wirkung entfaltete.

46.    In formaler Hinsicht indessen erinnert das Bild unweigerlich an das Gemälde Le Pauvre Pêcheur (1881) von Pierre Puvis de Chavannes (1824-1898) [Abb. 18]. Dieses Werk provozierte enorme Reaktionen, als es im Salon von 1881 in Paris ausgestellt wurde, und wir müssen durchaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Weingärtner es kannte. Wenn nicht im Original, so zumindest als Kopie, wenn man bedenkt, dass es 1887, als es vom französischen Staat erworben wurde, erneut Aufsehen erregte, vor allem aufgrund der Kühnheit der Initiative, die allen malerischen Konventionen der Zeit entgegenlief.

47.    Auffallend an dem Werk, das Gegenstand zahlloser Interpretationen war, ist vor allem sein synthetischer Charakter: ein sparsames Bild, das auf traditionelle Modellierung und Perspektive verzichtet. Von Joris-Karl Huysmans (1848- 1907) mit einem Bild aus einem Messbuch oder einem alten Freskogemälde verglichen, wurde es von den Künstlern begeistert aufgenommen, insbesondere von denjenigen, die auf der Suche nach einer neuen ästhetischen Orientierung waren. Georges Seurat (1859-1891), Paul Gauguin (1848-1903) und Maurice Denis (1870-1943) begeisterten sich, neben Pablo Picasso (1881-1973), in verschiedenen Momenten an der strengen Schlichtheit und der tiefen Wirkung dieses stillen Werkes, einer regelrechten Pforte zur neuen Malerei des kommenden Jahrhunderts.

48.    Tempora Mutantur scheint in direkter Nachfolge zu diesen thematischen und formalen Errungenschaften zu stehen: gewiss ein Gemälde mit geschichtlichem Bezug, doch auch fast ein Genrebild, nur intimistisch und ohne Anekdote, mit einer für die Gattung ungewöhnlichen Verhaltenheit und Intensität. Auch im Formalen zeigen beide Werke Entsprechungen: Wenngleich Tempora Mutantur formal stärker ausgearbeitet ist, vor allem im extremen Realismus der Figuren, trägt die Darstellung der Landschaft glattere und schlichtere Züge, sicher nicht in dem Grade wie im Bild von Puvis de Chavannes, doch in recht kühnem Maße für einen Maler aus einer Schule, die eine strenge und minimalistische Detailtreue in der Darstellung der Formen verfocht. Beide Gemälde teilen nicht nur den gedämpften Ton der Farbgebung und die sparsame Komposition, sondern auch das gleiche Klima der Verhaltenheit und Resignation, des ergebenen Schweigens und Akzeptierens einer höheren Bestimmung. Es sind Gemälde, die eine unbestimmte Wahrnehmung erzeugen, ein gleichzeitiges und widersprüchliches Gefühl von Gefallen und Befremden, das Huysmans sehr gut definierte: “En dépit des révoltes que soulève en moi cette peinture quand je suis devant, je ne puis me défendre d’une certaine attirance quand je suis loin d’elle” (HUYSMANNS 1883, S. 116). Um diese Annäherung Weingärtners an den Symbolismus zu untermauern, müssten wir noch andere Werke aus dieser Zeit untersuchen, welche die gleichen Merkmale aufweisen, vor allem das wenig bekannte und noch zu analysierende Bild Rosa Mística (1909) der Associação dos Profissionais Liberais Universitários do Brasil Sammlung in Porto Alegre, das vom Titel bis zu seiner klaren Ikonografie die Verbindung zu der Bewegung deutlich werden lässt.

49.    Wir haben hier den Versuch unternommen, das Werk Pedro Weingärtners zu den Regeln und Mechanismen der Kunstproduktion und -zirkulation in Bezug zu setzen, die nicht nur die historische Kenntnis der Zeit einschließen, sondern auch die Ausbildungsbedingungen der Künstler, die künstlerische Praxis sowie die Rezeption der Kunst bei den Instanzen der Verbreitung, der Legitimierung und des Publikums. Unser Anliegen war es, die Werke im Licht dieser Rahmenbedingungen zu betrachten. Dies ist eine Arbeit, die Ausdauer, Zeit und Raum erfordert, um in extenso entwickelt zu werden: Was wir hier präsentiert wurde, ist eine Skizze, ein Versuch, den Kenntnishorizont zum Werk dieses Künstlers zu erweitern. Dabei waren wir bestrebt, über die Rahmenkonzepte, wie sie die Literatur zu seinem Werk und im Allgemeinen zur Kunstproduktion im 19. Jahrhundert in Brasilien vorgibt, hinauszugehen und gängige Interpretationsschemata sowie verkürzende Etikettierungen zu vermeiden.

Übertragung aus dem Portugiesischen: Rainer Domschke

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* Martius-Staden-Jahrbuch, 2012, Nr. 59