Pedro Weingärtner Sein Werdegang und Werk im 19. Jahrhundert *
GOMES, Paulo César Ribeiro. Pedro Weingärtner Sein
Werdegang und Werk im 19. Jahrhundert. 19&20, Rio de Janeiro, v. XI,
n. 1, jan./jun. 2016. https://doi.org/10.52913/19e20.XI1.06b
[Português]
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1.
„Ich
will Künstler werden! Ich gehe nach Europa!“ So beginnt die offizielle Biografie Pedro Weingärtner (1853-1929), geschrieben
1956 von Angelo Guido. Die direkte Wiedergabe der Gedanken des (werdenden) Künstlers und die Reaktion der Familie präsentieren sich in der Schilderung Guidos für uns heute als
eine hübsche Fiktion. In Wahrheit gibt es nämlich keine vertrauenswürdigen biografischen Informationen über Pedro Weingärtner. Sein
Leben, seine Gedanken, seine Weltsicht,
alles ist uns, mit Ausnahme
seines Werks, unzugänglich,
denn es gibt keine Interviews, Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen oder irgendwelche andere schriftliche Hinterlassenschaften des Künstlers.
Sein Lebenslauf, seine Wege
und Werke bilden ein Geflecht aus widersprüchlichen
Daten und enormen Lücken, Ergebnis der zwar ehrlichen, aber doch konfusen
Bemühungen seiner ersten Biografen. Sie haben eine dichte Wolke voneinander abweichender Informationen geschaffen, die wir bis jetzt noch
nicht zu entwirren vermochten. Man hat den seltsamen Eindruck, als ob
niemand hinter dem Werk stünde: Wir wissen
von keiner seiner Arbeiten,
was ihn zu diesem Gemälde, jenem Stich oder dieser Zeichnung veranlasste; wir haben lediglich ein paar materielle
Spuren seines künstlerischen
Schaffensprozesses, wie zeichnerische Entwürfe, Studien und auch unvollendete Bilder. Aber selbst dies in geringer Zahl.
2.
Weingärtner ist in dieser
Hinsicht kein Einzelfall: Es gibt viele brasilianische Künstler dieser Zeit, von denen wir sehr
wenig wissen. Wenn uns Dokumente
fehlen, so fehlt uns vor allem
zunächst einmal das Bewusstsein zur Wertschätzung des mit unserer Kunstgeschichte verbundenen historischen Erbes: Wir vertiefen
uns in formale Analysen, Fragen der Rezeption, der sozialen Rahmenbedingungen und alles, womit ein Kunsthistoriker
sich befasst, doch leider sind
eigenhändige Dokumente selten und überlieferte Äußerungen spärlich. Wenn wir auf die Werke renommierter europäischer Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schauen, wie z. B. Édouard Manet
(1832-1883), Paul Cézanne (1839-1906), Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901) u.a., entsinnen wir uns rasch
biografischer Daten zu ihrer Herkunft,
ihrer Laufbahn, ihrem Lebensumfeld und der Kritik, die sie erfuhren, d.h. es stehen uns Informationen
zur Verfügung, die ihre Werke situieren und kontextualisieren. Wir reden hier keiner
Häresie das Wort und wollen
keinen Rückfall in die „biografische Illusion“ (BOURDIEU
1998), ein Modell, das die Praxis der zeitgenössischen Geschichtsforschung
definitiv überwunden hat, sondern verfechten lediglich das Recht auf einen Einbezug der persönlichen Sphäre, was notwendig ist, damit die betreffende Person nicht derart in den Hintergrund rückt, dass es scheint, sie habe gar nicht
existiert.
3.
Pedro Weingärtner war Maler, Zeichner
und Graveur. Einer der großen brasilianischen Künstler seiner Zeit, der nach einer ersten Lehrzeit
in Rio Grande do Sul nach Europa geht,
um sich dort zunächst in Deutschland, dann in Frankreich fortzubilden und sich schließlich in Italien niederzulassen. Sein malerisches Werk hat Höhepunkte in Genre- und Landschaftsbildern
sowie neopaganen Szenen; großen Erfolg hatte er zudem als Porträtist
der nationalen Aristokratie.
Weingärtner entfaltete
seine erfolgreiche Karriere
in Europa und in Brasilien, sein Werk
wurde auch im Ausland ausgestellt
und gehandelt, hauptsächlich
aber in São Paulo und Rio
de Janeiro. Sein bis ins erste Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts wachsendes
Ansehen vermindert sich erst gegen Ende seiner Karriere. Er geriet dann in eine Art Vergessenheit, in der das Werk, obgleich es weiterhin von Sammlern begehrt wird, bei Kunstlieb-
habern an Interesse verliert.
Um Weingärtners künstlerischen
Stellenwert zu verstehen, ist es nötig, einen
Blick auf seine Entwicklung
und Position in der Geschichte der brasilianischen Malerei seiner
Zeit zu werfen.
4.
Pedro Weingärtners Entscheidung, für
seine künstlerische Ausbildung
nach Deutschland zu gehen, kann sicherlich,
wenngleich es dafür keinerlei über- lieferte Äußerung oder dokumentarische
Belege gibt, mit seiner familiären Herkunft in Verbindung gebracht werden. Wir besitzen keine
Informationen darüber, ob der Künstler Verwandte oder Freunde dort hatte, doch
sowohl seine deutsche Abstammung
als auch Ratschläge von Freunden oder selbst Empfehlungen
wie die des Journalisten
Karl von Koseritz (1830-1890) mögen
zu dieser Entscheidung beigetragen haben. Das Naheliegende wäre zunächst gewesen,
die Hauptstadt des brasilianischen
Kaiserreiches Rio de Janeiro und seine angesehene Kunsthochschule, die Academia
Imperial de Belas Artes, aufzusuchen,
anstatt sich direkt nach Europa zu wenden. Und selbst dort wäre
den Erwartungen eines brasilianischen Künstlers eine Ausbildung in Frankreich oder Italien, wo die meisten der Stipendiaten oder Staatspensionäre des Kaiserreichs
ihre Studien betrieben, eher entgegengekommen. In dieser Hinsicht stellte seine Ausbildung in Deutschland eine Ausnahme dar, wie
auch die Tatsache, in
Europa studiert zu haben und in Rio de Janeiro sowie
in São Paulo erfolgreich gewesen
zu sein, ohne die Academia
Imperial de Belas Artes durchlaufen
zu haben (CARDOSO 2008).
5.
Sein Aufenthalt in Deutschland begann im Februar 1878 und erstreckte sich bis Mai 1882, als er sich bereits
in Frankreich befindet.
Dort bleibt er bis Juli
1884, geht dann nach Mayrhofen in Tirol und später nach München, von wo aus er sich 1886 nach Italien begibt
und sich dort bis zu seiner endgültigen Rückkehr nach Brasilien
im Jahr 1920 mit Unterbrechungen in Rom niederlässt.
6.
Zu
seiner Laufbahn als Kunststudent in Deutschland haben
wir nur eine
Liste von Orten, Schulen und Lehrern, aber sonst keine
näheren Informationen. Anfänglich lässt er sich in Hamburg nieder, dem bedeutenden Stadtstaat im Verbund des Deutschen Kaiserreichs
(1871-1918) mit einem der größten Häfen am Nordatlantik. Dort immatrikuliert
er sich für eine kurze Zeit, von Februar bis
September 1878, in der Hamburger Gewerbeschule,
worauf er dann nach Karlsruhe wechselt.
7.
In dieser Stadt nahe der Grenze zu Frankreich
wird Weingärtner grundlegende Studien betreiben, wenn wir die Zeichnungen, die aus dieser Zeit erhalten sind, zum Maßstab nehmen.
Den biografischen Erzählungen
Angelo Guidos und Athos Damascenos
(1971) zufolge studierte er
an der von Ferdinand Keller (1842-1922) geleiteten Großherzoglich-Badischen Kunstschule bei Theodor Poeckh (1839-1921); möglicherweise war er auch Schüler von Ernst Hilde- brand (1833-1924). Erster Leiter der 1854 vom Prinzregenten und späteren Großherzog Friedrich von Baden gegründeten
Institution war der Landschafts- maler
Johann Wilhelm Schirmer (1807-1863). Als Lehrer und administrativ
geschickter Reformer entwickelte
Schirmer für die Schule, die damals schon als fortschrittlich
galt, einen äußerst kühnen Lehrplan, sowohl aufgrund der Förderung der Landschaftsmalerei als auch wegen der großen Vielfalt künstlerischer Disziplinen im Programm. Soweit
wir wissen, hält sich Weingärtner
von Oktober 1878 bis Oktober
1880 in dieser Stadt auf und begibt
sich dann nach Berlin.
8.
Im
Zuge der industriellen
Revolution des 19. Jahrhunderts hatte
sich Berlin zum Zentrum der Wirtschaft und des Eisenbahnverkehrs entwickelt und
war am 16. April 1871 zur Hauptstadt
des neu gegründeten Deutschen
Kaiserreichs ernannt worden. Zudem war es die kulturelle Hauptstadt des Reichs. In dieser seiner dritten Stadt in Deutschland immatrikuliert
sich Weingärtner in der Königlich Preußischen Akademie
der Künste. Nach den
Schilderungen von Guido und Damasceno
hat er Ende der 1880er Jahre enorme finanzielle Schwierigkeiten, die ihn zwingen, die Akademie zu verlassen und eine Anstellung im Studio eines Fotografen anzunehmen. Einige Freunde aus Porto Alegre schicken ihm finanzielle
Überlebenshilfen: Martin Bromberg, Jacob Roch und J. Bartolomeo Sesiani, alles reiche Kaufleute.
9.
Im
Mai 1883 finden wir Weingärtner an der Académie Julian in Paris immatrikuliert, von wo er erst im
Juli 1884 zurückkehrt, zunächst nach Mayrhofen
und dann nach München, in
die reiche Hauptstadt Bayerns. 1871 zählte München bereits 170.000 Einwohner und hatte ein entsprechend
wirtschaftlich und kulturell
entwickeltes Leben. Er schreibt
sich an der dortigen Kunstakademie ein und kann sogar an einer
Ausstellung in der Modernen
Galerie teilnehmen, wo er einer
Aussage Karl von Koseritz’ zufolge das Gemälde Der Besuch im Atelier für „tausend Franken“ verkauft
(s. GUIDO 1956, S. 37).
10.
Wenn
er in Deutschland selbst als
Schüler eher traditioneller Maler engen Kontakt mit formal und thematisch couragierteren Künstlern wie Adolph Menzel
(1815-1905), Wilhelm Leibl (1844-1900), Franz von Lenbach (1836-1904) und Lovis
Corinth (1858-1925) hatte, wie
dies auch klar in seinem Werk zu
erkennen ist, so waren es in Frankreich die Maler im Umfeld der naturalistischen
Bewegung, zu denen er Kontakt suchte und fand. Die Verwandtschaft
von Weingärtners Werk mit diesen Künstlern
ist offenkundig, wie diese folgt
er den Richtlinien der „korrekten
Zeichnung“,
des guten Malens und der Betonung einfacher Themen, im Gegensatz
zum schwülstigen und trügerischen Stil der Malerei seiner französischen
Lehrer, vor allem
Adolphe-William Bouguereaus (1825-1905).
11.
Die Reise Weingärtners nach Frankreich und sein Aufenthalt dort von Mai 1882 bis Juni oder Juli
1884, nach seiner Wanderschaft
durch mehrere Städte und Kunstschulen in
Deutschland, ist in seiner Biografie
durch das Bemühen geprägt, finanzielle Stabilität zu erlangen,
was er dank einer von Kaiser Pedro II. gewährten Jahrespension auch erreicht. Wenn hinsichtlich seiner Karriere die Zeit in der Académie Julian [Abb. 1] keine merklichen
Spuren hinterlassen hat, so
brachte sein Aufenthalt in
Paris doch einen großen Wandel.
12.
In zwei Artikeln (2002 und 2005) untersucht die Forscherin Ana
Paula Cavalcanti Simioni die Rolle der Académie
Julian in Paris und führt dabei
die Etappen der damaligen kunstakademischen Ausbildung in Frankreich auf. Der Zeichenunterricht,
der einen hohen Stellenwert im Studiengang besaß [Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5], begann mit einem Abschnitt,
in dem die Schüler lediglich
Teile des menschlichen Köpers nach Gipsmodellen
zeichneten. In einer zweiten Stufe zeichneten
sie nach vollständigen Gipsmodellen von Büsten und Körpern, um Lichtverhältnisse und Proportionen
zu studieren, und in einer dritten Etappe
schließlich begann das Zeichnen nach lebenden
Modellen. Simioni zufolge hatte das Zeichnen nach lebenden
Modellen in der Académie erstrangige
Bedeutung in der Ausbildung
der Künstler und großes Gewicht in ihrer Karriere. Die Autorin erläutert, dass diese zwingende Präsenz des Zeichnens mit der Rangordnung der akademischen Kunstgattungen verbunden war, an deren Spitze die Historienmalerei stand, welche
auf den Helden zentriert
war, dessen Körper eine sichtbare und markante Muskulatur zeigen musste, als Zeichen der eminent männlichen Qualitäten physischer Kraft und Macht
(SIMIONI 2005). So war die Vollkommenheit
der Zeichnung menschlicher Körper grundlegendes Erfordernis für eine erfolgreiche Karriere.
13.
Die Malerei war die zweite Phase der kunstakademischen Ausbildung und durchlief verschiedene Niveaus, angefangen von der ersten, Ébauche genannten Stufe, in der die Studenten als technische
Übung ein Detail irgendeines Werks eines großen Meisters
kopierten. Die zweite, Esquisses
betitelte Stufe, galt dem Gesamtentwurf des konzipierten Gemäldes mit der Gestaltung der Komposition, Farb- und Lichtverhältnisse, doch mit lockeren Pinselstrichen,
ohne sich um die Vollendung zu kümmern;
und in der dritten Stufe
des Fini schließlich
gelangen wir zum eigentlichen Gemälde; nun geht es darum, auf die Esquisse zurückzukommen,
die Lichteffekte zu überprüfen und das Bild zu vollenden, indem alle Spuren des Malprozesses getilgt werden, um ihm die gewünschte Wirkung der Perfektion zu verleihen.
14.
Praktisch mit abgeschlossener
Ausbildung, berücksichtigt
man die fast sieben Jahre seiner Lehr- und Wanderzeit in Deutschland und Frankreich,
scheint Weingärtner, nachdem er 1880 in Deutschland und 1883 in Paris Zeiten ernster Geldnöte durchlebt hatte, mit der kaiserlichen Pension die ersehnte
finanzielle Unabhängigkeit errungen sowie gleichzeitig seine künstlerische Identität erlangt zu haben. Wir
können feststellen, dass er ab der Mitte der 1880er Jahre effektiv
ein eigenes malerisches Vokabular entwickelt.
15.
Wenngleich die Werke aus dieser Zeit nur wenige sind, so sind es die ersten, in denen wir einen
Künstler erkennen, der
seine Mittel und Themen beherrscht,
wie wir an dem No Ateliê betitelten Gemälde sehen können
[Abb. 6], das in Paris oder vielleicht auch in München gemalt wurde. Ein anderes bedeutsames Bild der Periode ist Recanto
do ateliê em München [Abb. 7], aus dem Jahr 1884, mit sichtlichen Anklängen an das berühmte Bild Das Balkonzimmer
(1845) von Adolph von Menzel (1815-1905) [Abb. 8], das sich heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin befindet.
16.
Was wir bei diesen
Werken beobachten können ist eine
offenkundige Zugehörigkeit zu einem Stil,
den man gemeinhin und unbedachterweise
als „realistische Malerei“ bezeichnet. Wir sagen unbedachterweise, denn - wie Jorge Coli bemerkt,
17.
[d]ie
Entwicklung der Kunstgeschichte
in unserer Epoche erinnert an ein riesiges Reich, das seine Domänen
immer stärker ausweitet. Seit der Wiederentdeckung des Barock vor etwa 130 Jahren bis zu derjenigen der historistischen Architektur und
der offiziellen Malerei des
19. Jahrhunderts in jüngerer
Zeit - über die Neubetrachtung
des Manierismus, des Jugendstils,
des Neoklassizismus, der romantischen
Malerei -, geraten ganze Segmente der künstlerischen Produktion, die seit Jahrzehnten im Schatten lagen,
in den Blick des Historikers
und eines immer breiteren Publikums. (COLI 2010,
S. 285)
18.
Im
Rahmen dieser Logik der Revision und Neuschreibung
der Kunstgeschichte erscheint
der Naturalismus als eine Tendenz, welche die Aspirationen einer großen Gruppe von Künstlern zu erfassen und zu verstehen erlaubt, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wirkten und sich in keine der damaligen Bewegungen wie etwa den Impressionismus
oder den Symbolismus einfügten, weshalb sie in den meisten kunstgeschichtlichen Studien einfach unbeachtet blieben. Im Fall Brasiliens z. B. waren es viele, die zwischen dem Ende des Akademismus des Zweiten Kaiserreichs und dem Modernismus
der 1920er Jahre an diesem „Nicht-Ort“ unbestimmt zusammengedrängt wurden.
19.
Bekanntlich war der Naturalismus eine künstlerische Bewegung, die um 1870 herum hauptsächlich in Frankreich aufkam, in enger Beziehung zum voraufgehenden
Realismus, doch mit „einer großen
Distanz zu dem Realismus Courbets - dessen Subjekt-Objekt-Beziehung nicht nach Neutralität
und Universalität trachtete
- und zum Naturalismus des Fin
de Siècle, der das Porträt seiner Zeit schaffen wollte, ähnlich wie das Projekt der Rougon-Macquart“ (COLI 2010, S. 291).
20.
Vom
Realismus übernimmt der Naturalismus einige Merkmale wie die Bedeutung des Motivs, die
sensible Wahrnehmung der Natur
und das Interesse an der Welt des Bürgertums und der Bauern. Die Bewegung kennzeichnet sich in erster Linie durch
eine darwinistische Sicht
der Existenz und durch den Glauben an die Nichtigkeit
der menschlichen Bemühungen
gegenüber den Mächten der Natur, neben dem auch auf die Welt der Arbeiter ausgerichteten thematischen
Interesse und dem stärkeren Akzent
auf der Figur gegenüber dem
Szenarium.
21.
Sie zu charakterisieren heißt, gemeinsame Merkmale zu erfassen,
und darunter sticht besonders ihr „recht homogener internationaler Charakter“ (COLI 2010, S. 287) hervor, mit seinem Zentrum
Paris, in der „École des Beaux-Arts, aber auch in den Ateliers diverser
Meister und in Akademien, unter
denen die Académie Julian die bedeutendste war“ (COLI 2010, p. 287). Ein weiteres von Coli erwähntes Merkmal ist der Hang zur sozialen Beschreibung
und Situierung der dargestellten
Objekte: „Indem sie nicht nach
Innovation auf der Ebene des künstlerischen ‚Machens‘ trachten, sondern im Gegenteil versuchen,
malerische Mittel, die sie sich perfekt angeeignet
haben und beherrschen, in
den Dienst der Absicht zu stellen, die ‚Realität‘ zu ‚beschreiben‘,
bilden die Naturalisten ein anonymes Metier,
das sie fast austauschbar werden lässt“ (COLI 2010, S.
287).
22.
Die formale und thematische Affinität von Weingärtners Werk zu den Naturalisten
ist nicht zu leugnen. Diese
Feststellung ist deshalb bis heute nicht ungewöhnlich, wie wir in einem
Text von Luciano Migliaccio sehen
können:
23.
Das Bild Derrubada [Abb. 9] des Südbrasilianers
Pedro Weingärtner ist vielleicht das erfolgreichste Werk unter all denen, die dem Rückgriff auf das
Thema der heimischen Landschaft
nach dem Beispiel [Félix-Emile] Taunays verschrieben sind. Doch in
den verrenkten Stämmen und ausgerissenen Wurzeln in einem rohen Licht vermochte der Künstler die symbolischen Konsonanzen des Themas einzufangen, während er gleichzeitig die Lichtebenen und -kontraste durch dichten Farbauftrag auf der Oberfläche bewältigt. Mit seiner Genremalerei, in der
er die Welt der Emigranten im
Süden des Landes darstellte, begründete Weingärtner einen neuen und kraftvollen Regionalismus in der brasilianischen
Malerei. (MIGLIACCIO 2000, S. 180)
24.
Der
von den zeitgenössischen Kritikern
und Kommentaristen des Künstlers
wahrgenommene besondere und
lokalistische Charakter wurde eher als
eine Art Regionalismus verstanden. In einer solchen Sicht führt diese Bildwelt theoretisch den Prozess der Schaffung einer nationalen Identität fort, einer Bewegung folgend, die im Rahmen des romantischen, literarisch inspirierten Akademismus aufkam und in einigen „indianistischen“ Werken vom Malern
wie Vitor Meireles (1832-1903) und Rodolfo Amoedo (1857-1941)
zum Ausdruck gelangte. Die Fortführung dieses identitätsstiftenden Weges liegt dabei in der Hinwendung zur lokalen Realität, wie z.b. im
Werk des aus der Provinz São Paulo stammenden José Ferraz
de Almeida Júnior
(1850-1899).
25.
Es ist interessant, dass diese thematische
und formale Verbindung den aufmerksameren Beobachtern nicht entging. Seine erste Einzelausstellung im fotografischen Atelier von Insley Pacheco in Rio de Janeiro im Jahr 1888 wurde von Oscar Guanabarino (1894)
mit Begeisterung empfangen. Unter anderen lobenden Kommentaren schrieb er:
26.
Gegenwärtig erscheint eine Kunst, die, wenn sie nicht geradezu
national ist, doch die
Tendenz dahin stark betont.
In dieser Hinsicht haben wir drei
bemerkenswerte Künstler,
die brasilianische Szenen malen und
dabei großartige Bilder produzieren - Almeida
Junior, Brocos und Weingärtner.
Weingärtner beschränkt sich nicht darauf,
brasilianisch zu sein - er wird lokalpatriotisch. Gegenwärtig zeigen seine Bilder Szenen aus
Rio Grande oder zumindest aus dem Süden.
27.
Wenn
es in dieser Ausstellung noch gar keinen entschiedenen Akzent auf der Darstellung von Themen aus dem Süden des Landes gab, so sollte dies in superlativer Weise bei der Ausstellung von 1892 geschehen,
die auch in Rio de Janeiro stattfand.
Bei den Werken dieser Periode, zu denen
Chegou Tarde! (1890) [Abb. 10], Kerb (1892)
[Abb. 11], Fios Emaranhados (1892)
[Abb. 12] und Charqueada
(1893) [Abb. 13] gehören, sind die Prinzipien des Naturalismus in seinen auffallendsten Aspekten nicht zu übersehen,
nämlich die Konzentration
des Blicks auf kleine
Gruppen von Menschen und ihre Alltagstätigkeiten.
Diese naturalistische Sicht
erkennt man deutlich in der
genauen Darstellung der Bewohner des Vale do Rio dos Sinos
in Kerb, derjenigen
der Bergregionen in Fios Emaranhados
sowie Chegou tarde! und schließlich der
Menschen und ihrer Verrichtungen
im äußersten Süden in Charqueada.
28.
Das Werk Weingärtners hat große thematische und auch formale Ähnlichkeit
mit dem Werk einer Vielzahl von europäischen Künstlern, sowohl französischen als auch deutschen.
Auffallend ist z. B. diejenige zu Évariste
Carpentier (1845-1922), eines
belgischen Malers von
Genre- und Landschaftsszenen. Die Betrachtung
des Gemäldes Les Étrangères
(1887) [Abb. 14]; erinnert unweigerlich an Chegou
Tarde! und Fios Emaranhados. Es sind Künstler, die bei der getreuen Abbildung der Realität der Dinge weniger besorgt sind um „die Wirklichkeit als um die Verteidigung einer Naturauffassung, die mit einer traditionellen
Darstellungsform der Wirklichkeit
verbunden ist. In dieser Hinsicht ist Weingärtner eher ein ‚naturalistischer‘ als ein im eigentlichen Sinne ‚realistischer‘ Maler“
(COSTA 2010, S. 8).
29.
Wenn
diese Bewegung auch, wie wir
sahen, ihr Zentrum in Frankreich und hauptsächlich in Paris hatte, so entfaltete sie sich doch in breitem
Maße und bei großer Empfänglichkeit in ganz Europa und selbst in Brasilien und man klassifizierte ihre Anhänger recht
unterschiedslos als Realisten, Naturalisten, Macchiaioli, Veristen, bürgerliche Realisten etc. In diesem Sinne können
wir - innerhalb der geografischen Grenzen von Weingärtners Wirken - eine ganze Reihe
von Künstlern in diesen kunsthistorischen Zusammenhang stellen: die Franzosen Jules
Bastien-Lepage (1848-1884), Jules Breton (1827-1906), Julien Dupré (1851-1910),
Alphonse Moutte (1840-1913), den Portugiesen
José Malhoa (1855-1933)
[Abb. 15], die Italiener Ettore Tito
(1859-1941), Telemaco Signorini
(1835-1901), Antonino Leto (1844-1913), Francesco Loiacono
(1841-1915), die Deutschen Adolph von Menzel
(1815-1905), Hans von Marées (1837-1887), Wilhelm Leibl
(1844-1900), Fritz von Uhde (1848-1911), Wilhelm Trübner (1851-1917), Max Liebermann (1847-1935), die Spanier Joaquín Sorolla y Bastida (1863-1923) und Mariano Barbasán Lagueruela (1864-1924) [Abb. 16], letzterer Gefährte Weingärtners während der Sommer in Anticoli Corrado, neben den bereits erwähnten Brasilianern Rodolfo Amoedo und
José Ferraz de Almeida Júnior. Es sind
Künstler, die, außer dass sie einer
selben Generation angehören,
denn die meisten von ihnen wurden um die Mitte des 19.
Jahrhunderts geboren, sich auch in formaler
Hinsicht sehr nahe stehen, nämlich
durch die Beibehaltung der traditionellen Perspektive, die Deutlichkeit und Gegenständlichkeit
in der Darstellung der Objekte
und Personen und eine realistische Palette, d.h. die Treue zur mimetischen
Darstellung der Dinge.
30.
Es werden noch andere
wichtige Aspekte des Naturalismus von Jorge Coli hervorgehoben,
auf die wir hier nicht näher eingehen
können, wie etwa die Funktion dieser Werke in Hinsicht auf ihr Publikum und das Verhältnis dieser Künstler zur Fotografie:
„Im Vergleich zum Malerei bietet
uns die fotografische Wiedergabe ein zufälliges Zeugnis, ein Fragment, das verschieden ist von der im Gemälde enthaltenen Gesamtschau […]. Der Maler […] rekreiert
das Reale; er erfasst es nicht in seinem partiellen Sein, sondern komponiert es neu, auf eine für
den nach Synthese suchenden Geist befriedigenderen Weise“ (COLI 2010, S. 292).
31.
Haben
wir über die Gründe, die Weingärtner zum Studium in Deutschland bewegten, keine zuverlässigen Informationen, so auch nicht über
seinen plötzlichen Wechsel nach Paris. Berücksichtigt man die Entwicklung
und späteren Ergebnisse
seiner Karriere, lässt sich die Strategie dieses Wechsels dadurch verstehen, dass sie ihm
die Annäherung an einen von
der brasilianischen Aristokratie
bewunderten Künstler wie den hochberühmten Bouguereau erlaubte. Dadurch eröffnete sich Weingärtner einen Weg zu materiellem
Komfort. Über seine Entscheidung, nach Italien zu gehen,
besitzen wir auch keine Daten.
Interessanterweise war dies die von Kunstliebhabern am wenigsten verstandene Entscheidung, sie sehen darin
einen Rückschritt, da
dieses Land im 19. Jahrhundert
nach dem Glanz der Renaissance und des Barock als ein
stagnierendes, einem traditionellen, wenn nicht rückständigen Geschmack verhaftetes Zentrum galt.
32.
Indessen meinen wir,
dass man hier nicht von Stagnation sprechen kann: Freilich erlebte Italien nicht mehr den Überschwang seiner Vergangenheit,
doch dies heißt nicht, dass seine künstlerische Produktion erloschen war. Rom war noch immer ein bedeutendes
Zentrum kultureller Bewegung, man schaue z. b. nur auf die italienische Musik der Zeit, die damals in
Europa das größte Ansehen genoss und am meisten bewundert wurde. Und die Literatur? Und die Macchiaioli?
Ohne diese Frage breiter auszuführen,
scheint uns Gonzaga Duque (1863-1911) in einer Kritik aus dem Jahr 1888 zur Ausstellung
von Henrique Bernardelli (1857-1936) - Kollege und einigen Dokumenten zufolge Freund Weingärtners in Italien - dazu treffend zu erläutern:
33.
Unter diesem Gesichtspunkt bietet Italien große Vorteile,
und unter vielen findet sich derjenige
einer gewissen Ähnlichkeit mit unserem Land, häutsächlich durch die Beständigkeit des Tons
und die Unwandelbarkeit des Lichts […], so dass also der Maler, der sich mit dem Studium der abgeschiedenen italienischen Natur im Freien
vertraut macht, gekonnt und mit Leichtigkeit unsere Landschaft darstellen wird. Diese Ansicht
scheint mir zutreffend und sie lässt mich
glauben, dass kein moderner Maler präziser unsere Natur darstellen
können wird als Henrique Bernadelli […]. Für denjenigen, der über wenige Lehrjahre verfügt, ist Italien
das einzige Land, wo ein brasilianischer Landschaftsmaler sich weiterentwickeln kann. (Zitiert aus DAZZI 2005, S. 124)
34.
In dem
Roman Ana em Veneza (1998)
des Schriftstellers João Silvério
Trevisan steht die Laufbahn des Komponisten Alberto
Nepomuceno (1864- 1920) aus Ceará
im Mittelpunkt eines Teils der Erzählung sowie dessen Beziehungen
zu anderen brasilianischen Künstlern in
Europa. So kommt es, dass auch die Maler Henrique Bernardelli
und Pedro Weingärtner indirekt
am Romangeschehen beteiligt
sind. Alle drei kamen jeweils für lange Zeit nach Europa und waren eng befreundet.
Trevisan bietet uns eine völlig
neue Sicht der Lebenswege
des südbrasilianischen Künstlers
und stellt ihn, was seine Teilnahme am kulturellen Leben im damaligen Rom betrifft, in einen glaubhaften und völlig kohärenten Kontext. In fiktionaler, an Nepomuceno gerichteter Erzählerrede schreibt Trevisan:
35.
[mit] seiner perfekten Kenntnis der Stadt, […]
führte er [Weingärtner] dich
ein in die Geheimnisse und Herrlichkeiten Roms, das er als die katholischste und heidnischste aller Hauptstädte der Welt ansah. […] Weingärtner ging mit dir auch
in die belebtesten römischen
Kaffeehäuser, besonders ins
Caffè Greco, dem Treffpunkt
kämpferischer Künstler - wo
du die Gruppe um Ferrari, Bertolla, die Brüder Coleman, Morani, Cabianca und andere Maler der Campagna,
Freunde Weingärtners, kennenlerntest,
die sich in lange Diskussionen über Ästhetik und Politik einließen, wenn sie sich die Zeit nicht einfach mit
Schachspielen vertrieben.
(TREVISAN 1998, s. 313)
36.
Trevisan beschreibt hier in Wirklichkeit die Gruppe In Arte Libertas, eine italienische Bewegung mit separatistischer
Tendenz, die eine Neuformulierung
der italienischen Malerei anstrebte, dabei Nachdruck auf symbolistische Aspekte legte und sich für die Landschaftsmalerei als die ihren Absichten
angemessenste Gattung einsetzte.
37.
Der Symbolismus war eine Stilrichtung, welche die Nicht-Gegenständlichkeit der Kunst vertrat
und Aspekte hervorhob, die
in der Sprache der Malerei
bis dahin nicht zum Tragen gekommen
waren, wie z. B. das Unbewusste. Er betonte Themen, welche Fragen nach dem Sinn von Leben
und Tod, Phantasie, Traum,
Mythos, dem Rätselhaften, dem Mysterium
etc. umfassten; d.h. alles, was die Welt des modernen
Menschen verdrängte.
38.
Selbst
in Anbetracht der geringeren
Verbreitung des Symbolismus
außerhalb Frankreichs und Belgiens (für beide Länder existiert dazu eine umfangreiche Bibliographie), hatte die Bewegung auch Anhänger
und eine beachtliche Entfaltung in anderen Ländern wie in Italien und in geringerem Maße sogar in Brasilien.
Unter dem starken Einfluss
des Dichters Gabriele d’Annunzio
(1863- 1938) entwickelten Künstler
wie Adolfo de Carolis
(1874-1928) und Giulio Aristide Sartorio (1860-1932) einen
Malstil, der auf die Renaissance-Tradition mit ihrem Geschmack
an Mythos und Allegorie zurückgreift, wie er vor allem in der Malerei der englischen Präraffaeliten zum Ausdruck kommt.
39.
In Arte Libertas wurde
1886 von (Giovanni) Nino Costa (1826-1903) gegründet,
einem talentierten römischen Maler, der auch gute Fähigkeiten zur Organisation und Führerschaft hatte. Sich abwendend vom Stil der Macchiaioli,
einer malerischen Avantgardebewegung mit naturalistischer Thematik und Einflüssen impressionistischer
Technik und Palette, hatte In Arte
Libertas eine offen antiakademische Ausrichtung und wollte die Malerei wieder stärker mit dem Leben verbinden, die Künstler in direkten Kontakt mit dem darzustellenden Motiv bringen. In ihrer Konzentration auf Landschaft und Natur war die Malerei von In Arte Libertas mit symbolischem und metaphysischem
Sinn aufgeladen und darin vor allem mit
der Malerei der École de Pont-Aven
verwandt.
40.
Wir
wissen nicht, ob Weingärtner so eng in die Gruppe des Caffè
Greco eingebunden war, wie
Trevisan erzählt, oder dort nur
oft verkehrte. So wissen wir auch nicht,
ob er an der Ausstellung
von In Arte Libertas teilnahm,
die 1888 in London organisiert wurde
und dem breiten Publikum erstmals die Werke der Italiener zusammen mit Bildern
von Camille Corot (1796-1875), Edward Burne-Jones (1833-1898) und Arnold Böcklin (1827-1901), neben anderen englischen Präraffaeliten,
präsentierte.
41.
Die
Gruppe löst sich in den ersten Jahren nach 1900 auf und formiert sich später
zu einer anderen, die sich die XXV della Campagna Romana nennt
und weiterhin den Prinzipien
Nino Costas folgt, zusammen
hinauszieht, um das Land um Rom in Gemälden darzustellen und um in
den örtlichen Tavernen gut zu essen. Der Gruppe, die von
Henry Coleman (1846-1911) angeführt wurde, gehörten Onorato Carlandi (1848-1939),
Giulio Aristide Sartorio (1860-1932), Filiberto Petiti
(1845-1924) und Duilio Cambellotti (1876-1960) an.
Sie hinterließ eine umfangreiche Produktion von Landschaftsbildern, die von da an die gesamte
neue italienische Malerei beeinflussen sollte.
42.
Zwei Aspekte interessieren uns hier bei
dieser Annäherung Weingärtners an diese dissidenten Künstler: die symbolistische Thematik und die Gattung Landschaft. Das Gemälde mit dem Titel Tempora Mutantur (1898) [Abb. 17] scheint mit beiden Aspekten
verbunden zu sein.
43.
Dieses
Gemälde, eines der Meisterwerke des Künstlers, hatte eine lange
Entstehungszeit, zumindest
was die Landschaft angeht,
in welcher die Personen situiert sind, denn dieselbe Landschaft
ist Thema eines anderen Bildes aus dem Jahr 1893, mit gleicher Gestaltung
bis in kleine Details und mit
gleicher malerischer Ausführung.
44.
Vom
Titel mit einem betont symbolischen
Charakter bis hin zur Gestaltung eignet dem Gemälde ein Klima des Verhaltenen und Subjektiven, das beim Publikum und selbst bei einigen Spezialisten
immer Fragen provoziert hat. Die Interpretationen
beginnen bei einer wörtlichen Lektüre des Titels, einer Verkürzung des Sprichworts, das auf eine Kaiser
Lothar I. (795-855) zugeschriebene Sentenz zurück- geht und vollständig Omnia mutantur, nos et mutamur in illis (Alle Dinge ändern sich und wir ändern uns
in ihnen) lautet. Wann immer verwendet,
bringt der Satz das Gefühl einer Entfremdung
zum Ausdruck, das die modernen Zeiten in den Menschen hervorrufen, selbst wenn vieles besser
werden mag, doch Gewöhnung und Anpassung erfordert, da Entwicklung eben Veränderung bedeutet.
45.
Andere,
immer noch auf den Titel gestützte Interpretationen deuten das Bild
auf die historische Situation der italienischen
Einwanderer und ihre Schwierigkeiten im neuen Land hin oder aber im
Zusammenhang mit dem
starken Einfluss des Positivismus
auf das brasilianische Denken
in der Zeit des Übergangs zur
Republik, vor allem in Rio Grande do Sul, wo die Doktrin
August Comtes eine tiefe Wirkung entfaltete.
46.
In formaler Hinsicht indessen erinnert das Bild unweigerlich an das Gemälde Le
Pauvre Pêcheur (1881)
von Pierre Puvis de Chavannes (1824-1898) [Abb. 18]. Dieses Werk provozierte enorme Reaktionen, als es im Salon von 1881 in Paris ausgestellt
wurde, und wir müssen durchaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Weingärtner
es kannte. Wenn nicht im Original, so zumindest als Kopie,
wenn man bedenkt, dass es 1887, als es vom französischen Staat erworben wurde, erneut Aufsehen
erregte, vor allem aufgrund der Kühnheit der Initiative, die allen
malerischen Konventionen
der Zeit entgegenlief.
47.
Auffallend an dem Werk, das Gegenstand zahlloser Interpretationen war, ist vor allem sein synthetischer Charakter: ein sparsames Bild, das auf traditionelle Modellierung und Perspektive verzichtet. Von
Joris-Karl Huysmans (1848- 1907) mit einem Bild aus einem Messbuch oder einem alten
Freskogemälde verglichen, wurde es von den Künstlern begeistert aufgenommen, insbesondere von denjenigen, die
auf der Suche nach einer neuen ästhetischen
Orientierung waren. Georges
Seurat (1859-1891), Paul Gauguin (1848-1903) und Maurice Denis (1870-1943) begeisterten sich, neben Pablo Picasso (1881-1973), in verschiedenen
Momenten an der strengen Schlichtheit und der tiefen Wirkung dieses stillen Werkes, einer regelrechten
Pforte zur neuen Malerei des kommenden Jahrhunderts.
48.
Tempora Mutantur scheint in direkter Nachfolge zu diesen
thematischen und formalen Errungenschaften zu stehen: gewiss ein Gemälde mit
geschichtlichem Bezug, doch auch fast ein Genrebild, nur intimistisch und ohne Anekdote, mit einer für die Gattung ungewöhnlichen Verhaltenheit und Intensität.
Auch im Formalen zeigen beide Werke Entsprechungen: Wenngleich Tempora Mutantur formal
stärker ausgearbeitet ist, vor allem
im extremen Realismus der Figuren, trägt die Darstellung der Landschaft glattere und schlichtere Züge, sicher nicht in dem Grade wie im Bild von Puvis de Chavannes, doch in recht kühnem Maße
für einen Maler aus einer Schule, die eine strenge und minimalistische Detailtreue in der Darstellung
der Formen verfocht. Beide Gemälde teilen
nicht nur den gedämpften Ton der Farbgebung und
die sparsame Komposition, sondern auch das gleiche Klima der Verhaltenheit
und Resignation, des ergebenen Schweigens
und Akzeptierens einer höheren Bestimmung. Es sind Gemälde, die eine unbestimmte Wahrnehmung erzeugen, ein gleichzeitiges und widersprüchliches Gefühl von Gefallen und Befremden, das
Huysmans sehr gut definierte:
“En dépit des révoltes que soulève en moi cette
peinture quand je suis devant, je ne puis me défendre d’une certaine attirance quand je suis loin d’elle”
(HUYSMANNS 1883, S. 116). Um diese Annäherung Weingärtners an den Symbolismus zu untermauern, müssten wir noch
andere Werke aus dieser Zeit untersuchen, welche die gleichen Merkmale aufweisen, vor allem das wenig
bekannte und noch zu analysierende Bild Rosa Mística (1909) der Associação dos Profissionais Liberais
Universitários do Brasil
Sammlung in Porto Alegre, das vom
Titel bis zu seiner klaren Ikonografie die Verbindung zu der Bewegung deutlich werden lässt.
49.
Wir
haben hier den Versuch unternommen, das Werk Pedro Weingärtners zu den Regeln und Mechanismen der Kunstproduktion
und -zirkulation in Bezug zu setzen, die nicht nur die historische
Kenntnis der Zeit einschließen,
sondern auch die Ausbildungsbedingungen der Künstler,
die künstlerische Praxis sowie
die Rezeption der Kunst bei
den Instanzen der Verbreitung,
der Legitimierung und des Publikums.
Unser Anliegen war es, die Werke im
Licht dieser Rahmenbedingungen
zu betrachten. Dies ist eine Arbeit, die Ausdauer, Zeit und Raum erfordert, um in extenso entwickelt
zu werden: Was wir hier präsentiert
wurde, ist eine Skizze, ein
Versuch, den Kenntnishorizont
zum Werk dieses Künstlers zu erweitern.
Dabei waren wir bestrebt, über
die Rahmenkonzepte, wie sie die Literatur zu seinem Werk
und im Allgemeinen zur Kunstproduktion im 19. Jahrhundert in Brasilien vorgibt, hinauszugehen und gängige Interpretationsschemata sowie verkürzende Etikettierungen zu vermeiden.
Übertragung aus dem Portugiesischen: Rainer Domschke
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Martius-Staden-Jahrbuch,
2012, Nr. 59